Inhaltsverzeichnis Unheil naht Flucht und Rückkehr Kämpfe um Hölkewiese Bis zur Vertreibung Gefallene
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Reisevorbereitungen

Meine Mutter schreibt in ihren Aufzeichnungen, am 28. August 1945 wären alle Umquartierten von den Polen aufgefordert worden, dorthin zurückzukehren, wo sie 1939 gewohnt hätten. Sie sei aber von der Ruhr, die sie stärker als ich gehabt hätte, noch sehr schwach gewesen. Aus unserer Kreisstadt Rummelsburg hätten sie sich eine Bescheinigung geholt und am 20. September 1945 seien wir von Hölkewiese zu Fuß abmarschiert.

Reisegenehmigung

Diese "Reisegenehmigung" besitze ich noch heute: Ein winziger, abgegriffener Zettel, auf dessen Rückseite noch die Druckzeile "ummelsburg i. Pom., den " zu lesen ist, mit einer schlechten Schreibmaschine polnisch beschriftet und von Hand ausgefüllt. Danach war meine Mutter erst am 7. September in Miastko, wie nun Rummelsburg hieß, und offenbar sind wir erst am letzten Gültigkeitstag dieses Dokuments - am 20. September - aufgebrochen; was wohl einfach daran lag, daß niemand das Polnische lesen konnte. In Bärwalde, kaschubisch Berwôłd, polnisch Mieszkowice wurden wir erneut kontrolliert, erhielten eine Verlängerung - wenn ich das richtig verstehe - bis zum 29.09.1945 und in Berlinchen, polnisch Berlinka, eine weitere bis zum 15.10.1945.

In den Tagen und Wochen davor wurden die Reisevorbereitungen getroffen. Wie sollten wir eigentlich nach Berlin kommen? Die Eisenbahn fuhr nicht mehr, jedenfalls nicht mehr unserer Nähe, etwa in Baldenburg. Also blieben nur Schusters Rappen. 324 Bahnkilometer waren es bis Berlin. Fürchteten wir uns? Sicher, aber weniger vor der Strecke.

Für unsere wenigen Habseligkeiten brauchten wir ein Transportmittel. Walter Beß hatte von unserer mißglückten Flucht zur Küste noch den ockergelben Handwagen. Den sollten wir kriegen unter der Bedingung, daß wir Räder für einen ähnlichen, neu zu bauenden Wagen besorgten. Das „Woher“ war schon geklärt. Kurz vor Groß Karzenburg sollte auf einem Feld am Rande der Chaussee eine Pflug - oder war’s eine Egge - mit vier eisernen Rädern stehen. Die hatten die richtige Größe, die sollten wir holen. Wir, das waren Gerhard, Horst und ich. Voller Abenteuerlust machten wir uns auf den Weg; endlich eine Abwechslung! Nach Westen war ich über unseren Grand noch nie richtig hinausgekommen. Nach einem Kilometer verschwand die Straße im Wald. Aber bald lag linker Hand wieder freies Feld, das schon zu Groß Karzenburg gehörte, bald auch rechts ein Feld, dann wieder auf beiden Seiten dichter Wald. Die Chaussee lief hier auf einem Damm, man sah von oben auf die jungen Bäume. Rechts waren Panzer durchgefahren und hatten die dünnen Stämme nieder gewalzt. Dann hörten die Bäume auf, vor uns lagen die Karzenburger Felder und - der Pommernwall! Ein Panzergraben zog sich quer zur Straße durch das Gelände. Rechts, etwas erhöht war ein betonierter Unterstand zu erkennen. Mitten auf der erhöhten Fahrbahn selbst stand ein hölzernes Ungetüm mit einem Durchlaß in der Mitte, eine Panzersperre, deren dicke Kiefernstämme auf beiden Seiten von Granaten zerfetzt waren. Wenige Meter davor zog sich ein flacher, schmaler, teilweise mit Brettern abgedeckter Graben über die Fahrbahn; dort sollten wohl Minen liegen. Fast alles war unzerstört. Im Herbst hatte man hier wochenlang geschuftet, aber als dann der Feind wirklich kamen, gab es keine Verteidiger. Wie man aus den Spuren leicht ablesen konnte, hatten sich die Russen der Stellung vorsichtig genähert, aber schnell gemerkt, daß da kein Gegner war.

Wir hielten uns nicht lange auf, zogen weiter und waren bald am Ziel. Schnell waren die rostigen Räder abmontiert, doch die Dinger waren verdammt schwer! Vier Stück und wir waren doch bloß drei. So wurde der Rückweg recht mühselig. Kurz vor dem Panzergraben hörten wir aus dem Walde Hufgeklapper, das hieß auch jetzt noch, in Deckung gehen. Wir ließen die Räder fallen und schmiegten uns in das hohe Gras am steilen Hang des Straßendammes. Über uns fuhr die hoch bepackte Kutsche nach Westen: polnische Siedler auf dem Wege zur „Landnahme.“ Die Pause nutzten wir zur genaueren Untersuchung des Pommernwalls, aber es fand sich nichts Interessantes.

Als wir die Hölkewieser Feldmark erreicht hatten, waren unsere Kräfte am Ende. Da hatte ich eine Idee: Wir hatten schon versucht, die Räder zu rollen, aber das ging immer nur meterweise; dann fielen sie wieder um. Wenn wir aber auf jedes Ende eines Stockes zwei Räder steckten, blieben sie stehen und ließen sich besser rollen. Woher aber den passenden Stock kriegen? Am Chausseedamm standen junge Birken. Die zähen Dinger ließen sich nicht richtig abbrechen, ein Messer hatten wir nicht, aber irgendwie schafften wir es doch.

Beßen Walter baute in unseren Reisewagen einen doppelten Boden, unter dem Würste und Schinken versteckt wurden. Meine Mutter füllte eine Feldflasche aus Aluminium, wie sie die Soldaten trugen, mit warm gemachten Schmalz. Als dieser abgekühlt und wieder fest geworden war, goß sie etwas Kaffee - keinen echten natürlich, den gab es schon seit Jahren nicht mehr - darüber, so daß bei einer flüchtigen Untersuchung der für uns so wertvolle Inhalt verborgen blieb.

Wie aber sollten wir uns auf dem Marsch zurechtfinden? Eine Karte mußte her! Meine Mutter holte aus der Schule die große Karte von Pommern, die im Unterricht an einem hohen Ständer aufgehängt wurde, schnitt die Holzstangen an beiden Schmalseiten ab und faltete das gute Stück zusammen. Das würde zwar dem dicken, gewachsten Leinenpapier auf Dauer nicht gut bekommen, aber was blieb ihr übrig? Unterwegs haben wir sie im Grase ausgebreitet und unse-ren Weg gesucht. Leider wurde sie später nicht als Andenken aufgehoben.

Von meinen wenigen geretteten Spielsachen konnte ich nur ein einziges mitnehmen, das kleine blaue Aufzieh-Rennauto. Lokomotive, Tender und Wagen sowie den Panzer mußte zurück-bleiben. Ich versteckte sie auf dem Boden zwischen Sparren und Dachstroh in der Hoffnung, sie einmal wieder zu holen. Dort werden sie erst verrostet und dann mit dem alten Haus zusammengebrochen sein.

Abschied von Hölkewiese

Der Tag des Abschieds kam. Alles war gepackt, nun mußte es losgehen. Ich sehe uns in die Grund gehen, wo Oma und Opa kniend Kartoffeln hackten, um ihnen Aufwiedersehen zu sagen. Wir gaben uns die Hand, Oma wischte sich die Hände an der Schürze ab, drückte mich an sich, gab mir einen feucht schmatzenden Kuß und wünschte „mien Jung“ alles Gute. Meine Mutter hat sicher geweint, aber heute finde ich es merkwürdig, daß uns keiner zur Straße be-gleitete . Vom Grand aus sah ich den Kirchturm von Hölkewiese für 51 Jahre zum letzten Mal.

Horst und ich gingen mit einem Zugriemen um die Brust wie Pferde an der Deichsel voran. Tante Anna und meine Mutter schoben bei Bedarf von hinten. Oben auf dem beladenen Wagen thronte Uschi, die dreijährige Schwester von Horst. Meine Mutter munterte uns auf: „Los, singt ein Lied“ und begann mit „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt“ oder - ich habe es schon erwähnt - „Jung Siegfried war ein stolzer Knab.“ Mit uns zogen auch die Leute, die neben uns im Bansemerschen Haus gewohnt hatten. Tante Anna Krause sagt, es soll eine Frau mit ihrer Mutter gewesen sein.

Unterwegs Über Groß Karzenburg und das Forsthaus Kleveberg ging es nach Bublitz, wo nahe der Stadt ein russischer Doppeldecker auf dem Felde stand... Bis dahin waren es schon 21 km, also nicht schlecht für den ersten Tag, aber noch marschierten wir weiter in Richtung Bärwalde, bis wir bei Bekannten in einem Haus an der Chaussee haltmachten. Am nächsten Tag kamen wir auf der geteerten Reichsstraße 169 gut voran. Wir überquerten auf einer Brücke eine eingleisige Bahnstrecke und waren sprachlos über die demontierten Schienen! Abends übernachteten wir in Bärwalde bei einer deutschen Familie. Das Haus lag an der – an dieser Stelle abschüssigen – Straße zur Stadtmitte. Als es dunkelte gab es - großes Wunder - elektrisches Licht. Der Mann erzählte, Polen hätten die Stromversorgung wieder in Gang gesetzt.

Wie wir hinter Bärwalde weiter gewandert sind, kann ich nur noch rekonstruieren. Wahrscheinlich sind wir auf der 169 nach Tempelburg gezogen, denn ich erinnere mich, daß hinter einer Stadt die ansteigende Straße neben einem großen See zur rechten Hand verlief. Der weitere Weg wird über Dramburg und Arnswalde nach Berlinchen geführt haben, denn diese Namen sind in mir haften geblieben. Vielleicht waren wir auch in Bad Polzin, den ich meine, wir hätten bei einer Frau in einem Badeort Quartier bezogen. Arnswalde verbinde ich mit drei Tigerpanzern, die, völlig unbeschädigt, auf dem abfallenden Hang neben der Straße standen.

Einige Bilder stehen vor meinem inneren Auge: Irgendwann nahm uns ein freundlicher Russe auf der Ladefläche seines Lastwagens mit - oder war’s nur ein Pferdefuhrwerk? Den Handwagen zogen wir hinterher. Los ging’s, aber beim Bremsen verklemmte sich seine Deichsel an der Ladefläche des Wagens und brach. Wir schnitten die Splitter mit dem Taschenmesser ab, doch die Griffe fehlten fortan.

Einmal wurden wir regelrecht überfallen. Seltsamerweise sehe ich bei diesen isolierten Erinnerungen immer deutlich die Örtlichkeit vor mir: Es war auf einer leicht nach rechts gekrümmten Chaussee. Auf beiden Seiten dehnten sich Felder und Wiesen, in der Ferne Baumgruppen. Nach Süden zweigte ein Weg, ab offenbar zu einer kleinen Ansiedlung. Zwei Radfahrer kamen uns entgegen, ziemlich unsicher, vielleicht betrunken? Ein Großer mit fettem, rötlichen Gesicht in russischer Uniform, der Kleinere in Zivil war sicher ein Pole. Sie stiegen ab, wir hielten an. Der Russe warf sein Rad weg und begann den Inhalt unseres Handwagen zu untersuchen. Schließlich zog er den Wintermantel meiner Mutter, der wegen seine schmalen Pelzkragens vielleicht etwas Besonderes darstellte, heraus und warf ihn dem Polen zu. Ich weiß nicht, ob Tante Anna oder meine Mutter irgendwie protestierten. Ich jedenfalls begann in diesem Moment laut zu heulen. Das wirkte. Der Pole sagte zum Russen verärgert etwas uns Unverständliches und warf ihm den Mantel zurück. Dieser zuckte mit den Schultern und kramte weiter in unseren Habseligkeiten, fand schließlich Tante Annas Mantel und zeigte ihn dem Polen. Es war wohl immer noch nicht das Richtige, aber da Horst still blieb und unsere Mütter auch nichts weiter unternahmen, gab sich der Pole zufrieden. Beide radelten davon.

Wanderung durch Pommern

Dann kam uns eine russische Panzertruppe entgegen: in Staub und Gestank gehüllt eine endlose Reihe von T 34 auf dem Wege nach Osten. Wir verließen die Straße und beobachteten die Kolonne aus sicherer Entfernung. Endlich waren sie vorbei und wir waren unbehelligt geblieben!

Soweit ich weiß, stand unsere Route nicht von vorn herein fest. Dazu fehlte uns in Hölkewiese alles Wissen um die Lage im Lande. Wenn schon einmal ein Fremder vorbei kam, dann auf dem Weg nach Westen, nicht umgekehrt. Unterwegs wird es ähnlich gewesen sein. Es war wohl hinter Berlinchen, daß Tante Anna und Mutti - über die ausgebreitete Schulkarte gebeugt - nach dem richtigen Oderübergang suchten. Schwedt - den Namen hörte ich damals zum ersten Mal - wurde in Erwägung gezogen. Stettin erschien wohl als zu gefährlich, die Wahl fiel auf Küstrin.

Je weiter wir nach Westen kamen, desto seltener traf man noch Deutsche. Die nahe der Oder gelegenen Teile Pommerns schienen schon völlig geräumt zu sein. Es wurde immer schwieriger, eine gute Unterkunft für die Nacht zu finden oder unsere mitgeführten Lebensmittel irgendwie zu ergänzen. Als wir einmal rechts, nicht weit von der Straße ein bewohntes Gehöft sahen, ein Schornstein rauchte, schickten die Mütter uns Jungen hinüber, um vielleicht etwas Milch zu ergattern. Mit bösem Geschrei und drohenden Gebärden wurden wir weggejagt!

Wir zogen eine lange schnurgerade Chaussee entlang. Auf der linken Seite lief parallel zur Straße ein leicht erhöhter Bahndamm. Dahinter breitete sich endlos Kiefernwald aus, auch auf unserer Seite lichter Wald. Das war eine Situation, die wir gar nicht mochten. Vielleicht kam einmal ein Militärauto vorbei, sonst aber war kein Mensch zu sehen. Oder doch? „Anna, da drüben ist einer im Wald!“ Wir blicken alle hinüber, niemand war zu sehen. „Ach, Mariechen, du siehst Gespenster“ meinte Tante Anna. Meine Mutter schwieg, spähte aber weiter über den Bahndamm. Wir hatten den Vorfall schon fast vergessen, als meine Mutter erneut flüsterte: „Da, da hinter der Kiefer steht er!“ Ich sah immer noch nichts, doch wir gingen schneller. So ging es noch eine ganze Weile, aber schließlich beruhigte sich meine Mutter wieder, es geschah uns nichts. Wahrscheinlich trieb sich tatsächlich jemand im Wald herum. Es gab immer noch versprengte deutsche Soldaten, die aus guten Gründen nicht in russische Gefangenschaft wollten und versuchten, sich nach Westen durchzuschlagen. Vielleicht war es auch ein russischer Deserteur oder ein ehemaliger Zwangsarbeiter, der keine Lust hatte, nach Sibirien geschickt zu werden.

In Zorndorf, etwa 10 km vor Küstrin, wo der Alte Fritz 1758 die Russen geschlagen hatte, wurden zum ersten Mal richtig „gefilzt“. Samt Handwagen bugsierte man uns in eine scheunenähnliches Bauwerk und ließ uns unsere Klamotten auf einem großen Tisch auspacken. Zwei Polen begannen, jedes Teil genauestens zu untersuchen, um es dann auf eine zweiten Tisch zu legen. Das dauerte eine Weile und ich begann, mir Gedanken um meine „Wertsachen“ zu machen. Nun besaß ich nichts weiter als das schon erwähnte, kleine blaue Blechauto. Es steckte in einem Kleidungsstück, das noch auf dem „nicht kontrollierten“ Haufen lag. Möglichst unauffällig ging ich hinüber, fand es auch schnell und steckte es in meine Hosentasche. Da ich aber fürchtete, auch selbst untersucht zu werden, schlenderte ich zu den „kontrollierten“ Sachen und ließ es dort verschwinden. Auf diese Tat war ich später noch lange stolz! Wenn überhaupt etwas - viel ist uns jedenfalls bei dieser Gelegenheit nicht abhanden gekommen. Der doppelte Boden unseres Wagens und sein Inhalt wurden genauso wenig gefunden wie das Schmalz in der Feldflasche. Wahrscheinlich hatten wir aber schon das meiste verbraucht.

In Küstrin wurden wir zum zweiten Mal gefilzt, aber es hat mich nicht mehr beeindruckt, denn ich habe nur blasse Erinnerungen. Die Stadt war ein einziges Trümmerfeld. Besonders in der Nähe des Flusses türmten sich zerborstene Kanonen und anderes Kriegsmaterial in großer Menge. Über die Oder führte eine Notbrücke, flankiert von den weißroten Fahnen Polens, die ich hier zum ersten Mal bewußt sah. Zwei uniformierte, mit Maschinenpistolen bewaffnete polnische Posten kontrollierten kurz unsere Papiere, und schon waren wir in Deutschland. Das heißt ... Der Gedanke kam uns damals überhaupt nicht in den Sinn, daß Pommerland nun endgültig für uns „abgebrannt“ sein sollte. Wir empfanden höchstens Erleichterung darüber, auf dieser Seite der Oder endlich nicht mehr „unerwünscht“ zu sein. Horst und ich rannten mit dem Handwagen donnernd über die Behelfsbrücke.

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